Nach neun Zinsanhebungen in Folge um insgesamt 425 Basispunkte könnte die EZB im September eine Pause einlegen. Oder auch nicht. Notenbank-Präsidentin Christine Lagarde ließ sich die Optionen für eine weitere Zinserhöhung wie auch eine Zinspause offen
Dicke graue Wolken hängen an diesem Juli-Donnerstag über dem Frankfurter Osten, als Christine Lagarde in sommerlich weißem Outfit vor die Presse tritt. Zuvor hat der Rat der Europäischen Zentralbank (EZB) bei der neunten Sitzung in Folge die Zinsen angehoben; 425 Basispunkte hat die Euro-Notenbank binnen nur eines Jahres aufgeschlagen.
Für Präsidentin Lagarde und die anderen Notenbanker steht die Sommerpause nun vor der Tür, erst im September wollen sie sich wieder über die Daten beugen und entscheiden, wie es mit den Zinsen in der Eurozone weitergehen soll. Dies werde ausschließlich „datenabhängig“ erfolgen, betonte Lagarde. „Die EZB hat auf der heutigen Ratssitzung den Autopiloten ausgeschaltet“, sagt Jörg Krämer, Chefvolkswirt der Commerzbank. „Anders als bisher bestimmen von nun an die Daten, ob die EZB ihre Zinsen noch mal anhebt oder nicht.“
Bis dahin werden Ökonomen, Investoren und Sparer sich über Konjunkturdaten beugen und spekulieren müssen, wie es wohl mit der Geldpolitik innerhalb der Währungsunion ab Spätsommer weitergehen wird. Lagarde, die vor einem Monat die heutige Zinserhöhung um 25 Basispunkte bereits fest zugesagt hatte, hielt es sich vollkommen offen, ob die EZB am 14. September die Zinsen weiter anheben oder eine Pause einlegen wird. Sie selbst sprach von einem „entschiedenen Vielleicht“ zwischen den beiden Optionen. Soll heißen: Es gibt definitiv keine Zinssenkungen, und selbst eine Pause im September wäre nicht das Ende des aktuellen Zinserhöhungszyklus.
Leitzins bei 3,75 Prozent
Mit den jüngsten Zinserhöhungen, die am 2. August wirksam werden, liegt der Einlagensatz dann bei 3,75 Prozent. Zu diesem Satz können Banken überschüssige Liquidität über Nacht bei der Notenbank parken. Dies ist auch der Wert, auf den Sparererinnen und Sparer achten sollten, denn dies ist der Mindestsatz zudem ihre mit 0,5 oder 1 Prozent verzinsten Spargroschen von ihrer Bank oder Sparkasse reinvestiert werden können. Der Einlagensatz ist, weil noch immer viel Liquidität im europäischen Bankensystem steckt, derzeit de facto der Leitzins der Eurozone. Er hat ein wenig den Hauptrefinanzierungssatz verdrängt, der nun bei 4,25 Prozent liegt. Der dritte Zins der EZB, der Spitzenrefinanzierungsatz, zu dem Banken über Nacht Geld leihen können, beträgt jetzt 4,75 Prozent.

Klar ist während Lagardes Auftritts allerdings von Anfang an: Das Thema Inflationsbekämpfung ist für die Euro-Notenbank noch nicht abgeschlossen. Gleich im ersten Satz der Pressekonferenz (nach den Begrüßungsworten) betonte sie, dass die Inflationsrate in der Eurozone fällt, aber wohl noch für längere Zeit zu hoch bleiben wird. „Too high for too long“ lautet ihre Kernbotschaft, mit der sie zumindest die Möglichkeit weiterer Zinserhöhungen betont. Das überraschte zahlreiche Marktakteure, die sich darauf verständigt hatten, die Phase steigender Leitzinsen könne an diesem Juli-Tag enden und im nächsten Jahr würden wegen der wirtschaftlichen Eintrübung sogar die Zinsen schon wieder fallen.
Zumindest mit einer Pause rechnet jedenfalls Michael Heise, Chefökonom von HQ Trust. „Differenzen dürfte es bei der Frage geben, inwieweit die bisherigen Zinssteigerungen – die ja mit zeitlicher Verzögerung wirken – die Konjunktur und damit auch den Inflationsdruck auf Sicht dämpfen werden“, sagte er. „Eine harte Landung der Wirtschaft mit deutlichen Einkommensverlusten zeichnet sich zwar noch nicht ab, aber die Konjunktur ist erkennbar angeschlagen. Daher dürfte im September eine Zinspause eingelegt werden.“
Klar machte Lagarde allerdings auch, es geht nicht automatisch weiter nach oben. Hatte sie bei den vorherigen Zins-Pressekonferenzen stets betont, es gebe noch einiges aufzuholen („Ground to cover“), so wies sie nun auf die Datenabhängigkeit weiterer Entscheidungen hin. „Unsere Bewertungen der Daten wird zeigen, ob wir weiteren Boden gut zu machen haben.“, sagte sie. Man komme dem Ziel zwar näher, aber es seien „weiterhin alle Optionen auf dem Tisch.“
„Inflation das Rückgrat brechen“
Das erscheint schlüssig, denn zuletzt stiegen die Preise noch immer um mehr als fünf Prozent an. „Die Inflationsrate ist aufgrund des Rückgangs der Energiepreise zwar deutlich gesunken, die Kernrate – ohne Energie und Nahrungsmittel – verharrt aber auf einem sehr hohen Niveau“, sagte Michael Holstein, Chefvolkswirt der DZ Bank. „Das sollte der EZB ein Dorn im Auge sein, denn sie muss sicherstellen, dass der Inflationsdruck auf breiter Front nachlässt und sich in Richtung Zwei-Prozent-Ziel bewegt.“
Jene Marke von zwei Prozent betonte auch Lagarde mehrfach. Man werde der Inflation „das Rückgrat brechen“. Die Betonung der Datenabhängigkeit „erhöht in der aktuellen Phase des Datenzyklus nicht die Wahrscheinlichkeit einer Zinspause im September“, betonte Tomasz Wieladek, Chefvolkswirt für Europa bei T. Rowe Price.
Markt reagiert auf US-Daten
Während also die EZB in die Sommerpause geht, werden Investoren weiterhin intensiv die Konjunkturdaten beobachten müssen, um eine Ahnung zu erhalten, auf welcher Basis in Frankfurt entschieden wird. Für die Marktreaktionen ist dabei einmal mehr allerdings der Blick über den Atlantik nötig.
Das zeigte sich schon, als während der Pressekonferenz mit Lagarde der Euro zum Dollar nachgab und der deutsche Aktienmarkt in Gestalt des Dax Kursgewinne verzeichnete. Nur, mit Lagardes Pressekonferenz hatte das recht wenig zu tun, es war kein Signal für die Erwartung einer Zinspause.
Was die Investoren bewegte, war das unerwartet starke Wirtschaftswachstum in den USA. Dort legte das Bruttoinlandsprodukt im zweiten Quartal um 2,4 Prozent zu – stärker als vom Marktkonsens (2,0 Prozent) unterstellt worden war. Damit erhielt an der Wall Street eine Stimmung weitere Nahrung, die bereits am Vorabend von der Notenbank Federal Reserve angestoßen worden war. Die Fed hat ebenfalls die Zinsen um 25 Basispunkte angehoben, so dass der US-Leitzins jetzt bei bis zu 5,5 Prozent liegt. Dieser Schritt war erwartet worden, keineswegs allerdings, dass Fed-Chef Jerome Powell weitere Zinserhöhungen nicht ausschloss.
Unmittelbar nach Veröffentlichung der BIP-Daten stieg der Dollar deutlich an, so dass der Euro 0,9 Prozent auf 1,0989 Euro absackte. Kürzlich hatte die Gemeinschaftswährung noch über 1,12 Dollar gehandelt. Ein schwächerer Euro erhöht tendenziell die Inflation, weil Importe teurer werden. Auch dieser Faktor spielt wohl in die Datenlage hinein. Vielleicht geht also doch noch was mit steigenden Zinsen im September.