Russlands Luftangriffe auf ukrainische Schwarzmeerhäfen zünden eine neue Stufe im Konflikt um Getreideexporte. Die Ukraine ist wieder vom Weltmarkt abgeschnitten – sehr zum Nutzen der Russen
Es reicht Moskau offenkundig nicht aus, den Schmarzmeerkorridor aufzukündigen, um die ukrainische Getreidewirtschaft zu zerschlagen. Russische Luftangriffe zielten zuletzt auf Häfen und Lagerhallen für das Korn – darunter auch in Odessa. Drohungen gegen die gesamte zivile Schifffahrt in dem Gewässer und alarmierende Berichte von neu verlegten Minen lassen nur den einen Schluss zu: Die ukrainische Ernte von Weizen, Mais und Ölsaaten muss andere Wege auf den Weltmarkt finden als über die ein knappes Jahr lang via Bosporus und Istanbul gewährte geschützte Route.
Eine Wiederaufnahme des mit der Uno und Kiew geschlossenen Getreideabkommens stellt Moskau nur zu eigenen Bedingungen in Aussicht. Und die scheinen – jedenfalls kurzfristig – unerfüllbar und wenig glaubwürdig, wenn Russland zugleich die Hafenregion Odessa bombardiert. Nach ukrainischen Angaben wurden so bereits 60.000 Tonnen Getreide vernichtet. Präsident Wolodymyr Selenskyj nannte die Angriffe den „womöglich größten Versuch Russlands seit Beginn des groß angelegten Krieges, Odessa Schaden zuzufügen“.
Schiffe, die ukrainische Häfen ansteuern, betrachtet Moskau forthin als „potenzielle Träger militärischer Fracht“, Bereiche des Nordwestens und Südostens der internationalen Gewässer des Schwarzen Meeres sind Russland zufolge als gefährlich für die Schifffahrt eingestuft. Kein Reeder und keine Versicherung werden unter diesen Vorzeichen das Risiko dieser Route eingehen.
„Ich bezweifle ernsthaft, dass es nach den Angriffen auf Odessa Freiwillige gibt“, sagt ein Handelsexperte. Hinfällig sind damit auch Überlegungen in Kiew, den 300 Seemeilen langen Korridor womöglich in Eigenregie fortzusetzen – flankiert von einem Millionenfonds der internationalen Gemeinschaft für Risikoprämien und Schäden.
Drohen Hungerkrisen?
Die meisten Länder haben Moskaus Rückzug aus dem Getreidedeal nachdrücklich verurteilt, weil Präsident Wladimir Putin erneut Hunger als Waffe einsetzt. Zahlreiche ärmere Länder im globalen Süden, vor allem in Ostafrika, und das Welternährungsprogramm (WFP) deckten bis 2022 ihren Getreidebedarf zu großen Teilen mit ukrainischer Ware. „Im vergangenen Jahr waren (zum Ausgleich) die guten Ernten unter anderem in den USA und Teilen Europas hilfreich“, sagt Tobias Heidland, Leiter des Forschungszentrums Internationale Entwicklung am IfW Kiel, der die Abhängigkeiten untersuchte. „Viele Länder konnten sich dann anderswo versorgen.“
Wie Heidland und andere Experten betonen, spielen die ukrainischen Exporte ihre entscheidende Rolle bei der Stabilisierung des Weltmarktpreises. So war das Preisniveau von Weizen, mit dem Russland und die Ukraine zusammen 30 Prozent des Welthandels versorgten, schon zu Beginn des Ukrainekriegs sehr hoch. Der Konflikt heizte global die Nahrungsmittelinflation weiter an und zog importabhängige und häufig überschuldete Entwicklungsländer ebenso in Mitleidenschaft wie Nothilfeakteure des WFP, die Hungernde in Krisen versorgen. Der Nahrungspreisindex der Welternährungsorganisation (FAO) ist seither auf Vorkriegsniveau zurückgekehrt, die Belastung ärmerer Länder hält aber an.

© USDA
Was aber ist die Folge, wenn das in knapp einem Jahr auf mehr als 1000 Frachtern über Schwarzmeerhäfen exportierte Getreide nun wegfällt? Von den rund 33 Mio. verschifften Tonnen entfielen 51 Prozent auf eingelagerten Mais, 27 Prozent auf Weizen und elf Prozent auf Sonnenblumenprodukte. Vor allem den Ausfall von Weizen für die weltweite Ernährungssicherung können andere Produzenten vermutlich auffangen. Von den rund 8,5 Mio. Tonnen über Schwarzmeerhäfen verfrachteten Weizen erreichten laut Unctad-Ökonom Carlos Razo 65 Prozent Entwicklungsländer (einschließlich China) – ein Anteil von 24 Prozent oder 1,9 Mio. Tonnen.
Dabei hatte das weithin als Gradmesser der globalen Ernteprognosen anerkannte US-Landwirtschaftsministerium (USDA) im Juni die globalen Erwartungen für Weizen um 10 Mio. auf eine Rekordmenge von 800 Mio. Tonnen angehoben. Als ein Faktor gilt die Lage Indien. Neu-Delhi erwartet trotz jüngster Unwetter eine Rekordproduktion von rund 112 Mio. Tonnen Weizen, will aber auch die eigene Staatsreserve aufstocken. Für die Weizenernte in der nördlichen und südlichen Hemisphäre sowie in Argentinien und Ostaustralien verbreitet der internationale „Crop Monitor“der Beobachtungsstelle Amis wetterbedingt derweil „gemischte Bedingungen“.
Höhere Weltmarktpreise unvermeidbar
In jedem Fall rechnen Experten wie Heidland mit wieder erhöhten Weltmarktpreisen. Wo diese sich einpendeln werden, ist noch unklar. Die Terminmärkte reagierten auf die jüngste Eskalation durch Moskau zunächst sehr viel gelassener als noch vergangenes Jahr. Die Krise war gewissermaßen antizipiert worden, nachdem Kiew seit Monaten darüber klagte, wie Russland den Getreidedeal zunehmend unterlaufe. So fiel die in Istanbul kontrollierte Menge von einem Höhepunkt von 4,2 Mio. Tonnen zuletzt immer weiter ab. Russland habe im Juni schon 29 Frachter vor der Einfahrt in türkische Gewässer warten lassen.
„Es ist offensichtlich, dass der Schwarzmeerkorridor nicht funktioniert hat, wie er sollte“, sagt der auf internationalen Agrarhandel spezialisierte Analyst Michael Magdovitz von der Londoner Rabobank. Die Verschleppung der Inspektionen habe das ukrainische Getreide bereits verteuert – zu Russlands eigenem Vorteil.
So schoss der Preis des Terminkontrakts für Weizen in Chicago zwar am Mittwoch auf 7,28 Dollar/Scheffel in die Höhe, blieb aber auch am Donnerstag zunächst mit 7,45 Dollar – und einem 14-prozentigen Anstieg über drei Tage – noch unter den vor vier Wochen gezahlten 7,53 Dollar. Das Rekordhoch von 14,25 Dollar war nach Kriegsausbruch im März 2022 erreicht worden. An der Euronext-Börse in Paris ging es für den September-Weizen am Mittwoch um 19,25 Euro nach oben auf 253,75 Euro/Tonne, am Donnerstag auf 254,50 Euro.
Die weitere Entwicklung wird davon abhängen, wie die Ausweichwege für Agrargüter über die Donau und den ukrainischen Flusshafen bei Ismail sowie über den Hafen Constanta in Rumänien weiter zu nutzen sind. Laut Nicolay Gorbatschow vom Kiewer Getreideverband (UGA) konnten zuletzt 60 Prozent der Exporte diese „Solidaritätsrouten“ passieren. Sie sind jedoch – einschließlich ihrer Bahn- und LKW-Strecken – länger und kostspieliger. Ein gut 500 Meter langer Güterzug kann etwa 2000 Tonnen Getreide befördern. Für die Menge bräuchte es rund 100 große Lkw. Ein Getreidefrachter fasst hingegen etwa 60.000 Tonnen – also so viel wie 30 große Güterzüge oder 3000 Lkw.
Ukrainische Bauern sind Leidtragende
Im Endeffekt werden die ukrainischen Landwirte eine noch höhere Zeche zahlen. Bei ihnen bleiben wegen erhöhter Logistikkosten sowieso schon denkbar geringe Erträge hängen. Mit dem Ausfall der effektivsten Schwarzmeer-Route dürften sie nun auf einem großen Teil der kommenden Ernte von Mais, Weizen und Sonnenblumenkernen sitzen bleiben. Das kann sich wiederum auf die Entscheidung aus wirken, im Herbst Winterweizen zu säen.
Laut einer USDA-Analyse erreichten die Getreideexporte im Erntejahr 2022/23 insgesamt 15,7 Mio. Tonnen Weizen, 2,7 Mio. Tonnen Gerste, und 27 Mio. Tonnen Mais. Die ukrainische UGA beziffert die Getreide- und Ölsaatenexporte zusammen auf 58 Mio. Tonnen – und setzt darauf, im neuen Erntejahr knapp 45 Mio. Tonnen ausführen zu können. Dagegen geht ein USDA-Ausblick aus Kiew – für den Fall einer „dysfunktionalen Schwarzmeer-Getreideinitiative“ – von einer Exportkapazität von nur noch rund 3 Mio. Tonnen pro Monat aus. Das entspricht den bisherigen Exportvolumina an die Nachbarländer Rumänien, Polen, Ungarn, Moldau und Slowakei.
Nutznießer Russland
Wenn es rückblickend immer heißt, vor dem Krieg hätten Russland und die Ukraine zusammen 30 Prozent zum globalen Exportvolumen von Weizen beigesteuert, so lässt das außer acht, dass beide Länder da schon erbitterte Konkurrenten waren. Auch in diesem Jahr berichteten Fachkreise von Preiskämpfen bei Schwarzmeergetreide. Unter dem Strich hat Russland zum Ende der Erntesaison 2022/23 im Juni mehr als dreimal so viel Weizen exportiert wie die Ukraine. Waren es im Vorjahr noch 35,6 Mio. Tonnen, so schätzt Rabobank-Experte Magdovitz die Jahresbilanz auf rund 58 Mio. Tonnen.
Damit hat Russland faktisch das im Februar von Putin verkündete gesteigerte Exportziel von 60 Mio. Tonnen Getreide nach einer Spitzenernte 2022 erreicht. Rekordausfuhren vor allem von Weizen hatten auch die Amerikaner vorausgesagt. „Trotz der russischen Behauptungen über Exportbehinderungen gedeihen Russlands Ausfuhren von Getreide- und Ölsaaten im laufenden Erntejahr mit breitem Angebot und wettbewerbsfähigen Preisen“, heißt es in einer USDA-Bewertung. Und sie könnten noch höher sein, bliebe nicht eine zu Corona-Zeiten zur heimischen Ernährungssicherung eingeführte Ausfuhrquote und -abgabe bestehen.

© USDA
Statt – wie behauptet – im Agrar- und Düngerhandel unter westlichen Sanktionen zu leiden, scheint der Sektor vielmehr einen immer prominenteren Weltmarktplatz einzunehmen. So fordert Moskau vom Westen unter anderem, die staatliche Landwirtschaftsbank Roszelchosbank wieder dem internationalen Zahlungssystem SWIFT anzuschließen. „Russland verlangt Zugeständnisse von der EU und den USA“, sagt Analyst Magdovitz, „aber der Status quo hat die Exportwege nicht beeinträchtigt, jedenfalls nicht auf der Getreideseite. Aus russischer Warte haben die Exportziele nicht gelitten“.
Exporte boomen
Vielmehr sei der Handel stetig geflossen, was Russland half, beträchtliche Lagerbestände abzubauen. Noch zum Jahreswechsel saßen russische Landwirte und Verarbeiter laut Statistik-Behörde Rosstat auf knapp 14 Mio. Tonnen Weizen – etwa 71 Prozent mehr als im Vorjahr. Auch im Juni seien die Lagerbestände noch ungewöhnlich hoch gewesen, schätzt Magdovitz – mit der Ernte von Winterweizen schon im Nacken.
Anders als die ukrainische Konkurrenz, die mit hohen Transportaufschlägen verkaufen muss, „hat Russland keine solchen Probleme“, sagt er. Selbst der Ausstieg der Agrarhandelsriesen Bunge, Cargill, Viterra und Louis Dreyfus aus dem russischen Getreideexport scheinen das Geschäft nicht spürbar gedämpft zu haben. Die Handelskonzerne dürften sich wegen indirekter Risiken aus westlichen Sanktionen verabschiedet haben. Aus Analystensicht kann der Rückzug der Händler für das längerfristige Wachstum einige Herausforderungen bringen. „Aber wir haben seither kaum Exportschwierigkeiten gesehen.“ Es gebe lokale Akteure, die Handel und Logistik abwickeln könnten.
Vor diesem Hintergrund verlieren jedenfalls Russlands Bedingungen an Glaubwürdigkeit, unter denen es gewillt wäre, den geschützten Korridor für ukrainische Güter wiederherzustellen. So sollen beispielsweise auch blockierte Vermögenswerte und Konten von russischen Unternehmen im Agrarhandel freigegeben werden. „Egal was Russland möchte oder verlangt: Es exportiert riesige Mengen Nahrungsmittel“, unterstrich der Rabobank-Experte. „Welchen Grund könnte es geben, der Welt die ukrainischen Ausfuhren über das Schwarze Meer vorzuenthalten statt den globalen Preisauftrieb im Zaun zu halten?“