Die Erfolge der bisherigen Klimapolitik sind ernüchternd. Der Ökonom Hans Stegeman findet: Es braucht ein Umdenken – mit einer Kombination aus radikalem Systemwandel und pragmatischen Ansätzen
Oft fällt es mir schwer, unsere derzeitige Situation zu begreifen. Obwohl die Folgen unseres schädlichen Einwirkens die Umwelt sich häufen und unübersehbar zu Tage treten, werden wir mit einer Vielzahl von Stimmen konfrontiert, die versuchen, das Ausmaß des Problems herunterzuspielen. Einige beschwichtigen und meinen, dass wir uns mit „außerordentlichen Innovationen“ retten könnten. Sie sind gegen radikale Entscheidungen und sträuben sich gegen jegliche Veränderungen, da sie fürchten, dies würde zu politisch-gesellschaften Unruhen führen. Einige leugnen sogar die Realität der vom Menschen verursachten Katastrophe, die sich vor unseren Augen abspielt, und verweisen auf frühere Fälle extremer Temperaturanstiege als vermeintlichen Beweis.
Die meisten von uns erkennen das Problem des Klimawandels und die Notwendigkeit von Veränderungen jedoch uneingeschränkt an. Und dennoch ist der Mangel an konkreten politischen Maßnahmen und die Untätigkeit von Regierungen, Unternehmen und Verbrauchern ernüchternd. Das mangelnde Vertrauen in das derzeitige System, das uns an diesen kritischen Punkt gebracht hat, ist Teil des Problems. Der Glaube, dass Innovationen und Märkte allein Lösungen bieten, mag für diejenigen, die mit ihrem derzeitigen Lebensstil zufrieden sind, tröstlich sein. Es mag auch den Interessenvertretern der umweltverschmutzenden Industrien gefallen, aber leider ist es ist ein fundamentaler Irrtum. Es ist wie eine Gute-Nacht-Geschichte, die falschen Trost spendet. Denn während der wahre Schrecken der Klimazerstörung ist nicht auf ferne Regionen beschränkt. Er steht unmittelbar vor unserer Haustür.
Und dann gibt es da noch die Kommentatoren in einigen Medien und Kanälen, die behaupten, dass wir es mit „Weltuntergangspropheten“ zu tun haben, wenn wir für drastische Maßnahmen plädieren, oder mit „Zauberern“, Leuten, die wirklich an Innovation als Lösung glauben und alles für zu alarmistisch halten. Dabei referieren sie auf „Der Zauberer und der Prophet“, das Buch von Charles Mann. So wird alles schwarz-weiß dargestellt, also leicht zu verstehen.
Setzen wir zu stark auf marktorientierte Politik?
Die Realität sieht jedoch, wie es auch in Charles Manns Buch betont wird, ganz anders aus. Ich selbst bin ein überzeugter Befürworter von Innovationen und Lösungen. Der Fortschritt der Menschheit ist ein Zeugnis für unser Streben nach Innovation. Aber wir müssen uns darüber im Klaren sein, dass nicht alle Innovationen, die wir erfinden, auch die Lösung unserer drängenden Probleme garantieren. Selbst mit dem besten Gewehr kann man kein einziges Reh erlegen, wenn im Wald alle Rehe ausgestorben sind.
Besonders beunruhigend finde ich die mangelnden Fortschritte bei der Erhaltung der biologischen Vielfalt. Ebenso fehlen mutige Schritte zu einer deutlichen Senkung des gesamtwirtschaftlichen Energieverbrauchs. Erneuerbare Energiequellen sind zwar zweifellos ein Schritt in die richtige Richtung, doch dienen sie derzeit eher als Ergänzung; ein kompletter Umstieg ist jedoch nicht in Sicht. Der steigende Energiebedarf erfordert umfassendere, tiefgreifendere Veränderungen. Denn wir müssen unsere ökologischen Herausforderungen wirksam angehen. Die Aussichten für die biologische Vielfalt sind sogar noch düsterer: Die schädlichsten Folgen unseres bisherigen Handelns werden sich erst noch voll entfalten, da unserer Ökosystem eine langsame Reaktionszeit hat und Schäden somit zeitverzögert entstehen.
Eine der Hauptursachen für unser Dilemma ist, dass wir zu stark auf eine marktorientierte Politik setzen. Dabei verlieren wir wirklich wichtige Zukunftsaufgaben aus den Augen: Wichtig ist eher „Degrowth“, das Herunterfahren von Industrien. Wir müssen Gewinne eher reduzieren und darauf hinwirken, die Nachfrage zu drosseln. Der marktorientierte Ansatz übersieht zudem das Jevons-Paradoxon und den so genannten Rebound-Effekt: Innovative Lösungen können demnach leider auch zu einem höheren Verbrauch führen. Dies ist die Konsequenz der Märkte: Sie suchen immer nach Wegen, um möglichst effizient Gewinne zu erzielen, und kümmern sich nicht um Nachhaltigkeitsziele.
Im Angesicht der immer deutlicher werdenden Klimakrise ist es wichtig, zu erkennen und klarzustellen, dass sich unsere Zukunft deutlich von der Vergangenheit unterscheiden wird. Lineare Annahmen, wie sie die Politik häufig verwendet, werden der Komplexität der realen Welt nicht mehr gerecht. Es ist daher nicht mehr möglich, sich auf schrittweise Lösungen zu verlassen. Wir müssen einen tiefgreifenden und transformativen Wandel in unseren Systemen herbeiführen, um den wachsenden Umweltproblemen wirksam zu begegnen.
Es braucht eine Doppelstrategie
Wenn wir die Grenzen und Schattenseiten marktorientierter Ansätze verstehen und unsere Annahmen überdenken, können wir den Weg für sinnvolle Veränderungen und nachhaltige Lösungen ebnen, um eine bessere Zukunft für unseren Planeten und künftige Generationen zu sichern.
2006 veröffentlichte Al Gore seinen Film „An Inconvenient Truth“, aber viele Menschen haben immer noch Schwierigkeiten, seine entscheidende Botschaft zu verstehen. Trotz der vielen Warnungen von Wissenschaftlern, der UNO und noch mehr Wissenschaftlerinnen, die den wahren Zustand unseres Planeten durchblicken, lenken wir uns immer noch gerne von unbequemen Wahrheiten ab. Wir konzentrieren uns auf Nebensächlichkeiten, unterdrücken und ignorieren alarmierende Stimmen. Leider werden in unseren politischen Diskussionen oft die Interessen der Privilegierten, das heißt der meisten von uns in der reichen westlichen Welt, in den Vordergrund gestellt. Dies bringt uns in einen gefährlichen Zustand ökologischer Verwundbarkeit.
Um diesen Herausforderungen wirksam zu begegnen, plädiere ich für eine Strategie des radikalen Pragmatismus. Radikal, weil wir einen Systemwandel benötigen, orientiert an der besseren Zukunft für die Menschheit und unsere weniger begünstigten Mitmenschen. Aber auch pragmatisch, weil wir erkennen, dass es Zeit braucht, um Kompromisse zu schließen und die unterschiedlichen Bedürfnisse unserer Gesellschaft zu berücksichtigen, um einen signifikanten Wandel zu erreichen. Wenn die Bezeichnung „radikaler Pragmatiker“ oder „Alarmist“ beinhaltet, dass ich dazu beitragen kann, Argumente und Lösungen zu fördern, die den Status quo in Frage stellen und den Weg für eine bessere Zukunft der Menschheit ebnen, dann nehme ich diese Rolle von ganzem Herzen an.
Die Wahrheit liegt für uns alle auf der Hand: Es gibt keinen einfachen Weg aus der Klima- und Umweltkrise. Wir brauchen Zauberer und Propheten, die zusammenarbeiten. Wir können uns entweder auf ein sinnloses Versteckspiel einlassen und die Wahrheit ignorieren oder uns der ungeschminkten Realität stellen und praktikable Lösungen gezielt zusammen vorantreiben. Nur wenn wir unbequeme Wahrheiten anerkennen und gemeinsam an Lösungen arbeiten, können wir hoffen, eine nachhaltige und erfolgreiche Zukunft für die kommenden Generationen zu schaffen!
Hans Stegeman ist Chefökonom der niederländischen Nachhaltigkeitsbank Triodos