Markus Steilemann ist CEO des Dax-Konzerns Covestro. Im Interview erklärt er, was er vom Industriestrompreis, dem Inflation Reduction Act und Deutschlands Innovationsfähigkeit hält
Herr Steilemann, Covestro will bis 2035 klimaneutral sein. Halten Sie noch daran fest?
MARKUS STEILEMANN: Ja, auf jeden Fall.
Wie sieht der Weg zur klimaneutralen Produktion bei Covestro aus?
In erster Linie durch den Einsatz von mehr Ökostrom. Wir wollen die Klimaneutralität nicht durch den Kauf von Zertifikaten erreichen.
Europa und Deutschland streben die Klimaneutralität erst für 2045 an. Warum wollen Sie es zehn Jahre früher erreichen?
Weil wir glauben, dass wir viel zu viele Ressourcen verbrauchen, um das moderne Leben zu ermöglichen. Aus einem unternehmerischen Selbsterhaltungstrieb heraus kommt man schnell zu dem Schluss, dass Ökonomie und Ökologie sinnvoll und schnell miteinander verbunden werden müssen.
Aber man könnte sich mehr Zeit lassen mit der Transformation.
Wir sehen uns als Vorreiter. Wir suchen den bestmöglichen ökonomischen Pfad zwischen fossilen Energieträgern mit CO2-Emissionen auf der einen Seite und der zunehmenden Bepreisung von CO2-Emissionen und der steigenden Wettbewerbsfähigkeit der erneuerbaren Energien auf der anderen Seite.
Wie weit sind Sie auf dem Weg zur Klimaneutralität?
2022 haben wir 12 Prozent der von uns benötigten elektrischen Energie weltweit aus grünen Quellen bezogen. In diesem Jahr streben wir 18 Prozent an.
Nun sind es nur noch zwölf Jahre bis 2035. Reicht das?
Ich bin sehr zuversichtlich. Nehmen wir an, wir erreichen die 18 Prozent bis zum Ende des Jahres. Dann haben wir noch 12 Jahre Zeit, um die restlichen gut 80 Prozent umzubauen. Das sind über den Daumen sieben Prozent pro Jahr – so weit sind wir jetzt schon. Darin ist noch nicht eingerechnet, dass die Umstellung immer schneller gehen wird. Gerade im Bereich der erneuerbaren Energien.
Ihre Produktion wird aber wahrscheinlich wachsen.
Wir werden auch in der Produktion wachsen, ja. Und dennoch bin ich zuversichtlich, denn gleichzeitig nimmt auch die Geschwindigkeit des Ausbaus der erneuerbaren Energien zu.
Sie haben gerade einen massiven Abnahmevertrag für erneuerbare Energien in Texas unterzeichnet. Welche Rolle haben dabei die Subventionen für den Ausbau der grünen Energie in den USA gespielt?
Für uns haben sie keine direkte Rolle gespielt. Aber sicherlich eine indirekte Rolle, nämlich für unseren Partner Ørsted, ein auf dem US-Markt führendes Unternehmen für erneuerbare Energien mit Sitz in Dänemark. Der Inflation Reduction Act subventioniert den Ausbau der erneuerbaren Energien.
Welche Rolle spielt Deutschland als Standort auf dem Weg zur Klimaneutralität?
Das Erfolgsmodell in Texas folgt auf eine Kooperation mit Ørsted in Deutschland, die wir bereits 2019 begonnen haben. Damals haben wir den zu diesem Zeitpunkt größten Abnahmevertrag in Deutschland unterzeichnet. Das wird auch zu einem weiteren Ausbau der erneuerbaren Energien bis 2025 führen, denn der dafür notwendige Windpark muss erst noch gebaut werden. Das zeigt, dass wir in Europa führend sein können.
Das war vor vier Jahren. Hat der Inflation Reduction Act die USA in der Zwischenzeit zu einem attraktiveren Standort gemacht?
Der Inflation Reduction Act ist ein zweischneidiges Schwert. Einerseits fördert er nämlich ein investitionsfreundliches Umfeld. Auf der anderen Seite hat es diskriminierende Elemente wie den sogenannten „Buy American“ -Aspekt, der eigentlich der notwendigen und sinnvollen Globalisierung zuwiderläuft.
Wie sollte Europa also auf den Inflation Reduction Act reagieren?
Europa sollte den Unternehmen bei den Betriebskosten helfen und weniger Investitionen subventionieren. Denn diese Subventionierung ist mit relativ harten und schmalen Spielräumen verbunden. Und genau das ist das Problem in Europa und Deutschland: Überregulierung, sogar Bestrafung.
Wenn es so weitergeht, wird Ihr Unternehmen nach 2035 noch in Deutschland produzieren?
Wir glauben an den Standort Deutschland. Aber ob wir in Deutschland produzieren können, hängt von vielen Aspekten ab. Zum einen ist die Energiewende der zentrale Faktor: Wir müssen schon sehr früh über große Mengen an bezahlbarer elektrischer Energie nachdenken.
Und weitere Aspekte?
So wie die Automobilindustrie vom Verbrennungsmotor auf den Elektromotor umgestiegen ist, muss die chemische Industrie in ihre eigenen Prozesse investieren, damit statt Öl und Gas mehr Strom als Energielieferant eingesetzt wird. Die Rahmenbedingungen für diese Umstellung müssen geschaffen werden.
Laufen Europa und Deutschland also Gefahr, ihren Wettbewerbsvorteil zu verlieren?
Der Wachstumsmotor in Europa ist massiv ins Stottern geraten. In Deutschland befinden wir uns in einer Rezession. Wir müssen damit rechnen, dass Deutschland in diesem Jahr beim Wachstum auf den letzten Platz unter den führenden Industrienationen abrutscht und am Ende des Wachstums in Europa steht. Das sind Zahlen und Fakten, die eine große Rolle dabei spielen, ob und in welchem Umfang hier am Standort tatsächlich investiert wird.
Aber für Sie als Unternehmer muss es doch gerade jetzt sehr angenehm sein, wenn zwei der größten Wirtschaftsräume buchstäblich mit Subventionen für die grünen Technologien der Zukunft um sich werfen, oder?
Ich habe eine klare Meinung zu Subventionen. Sie müssen immer das letzte Mittel sein und immer befristet. Eine Industrie kann nicht dauerhaft auf gesunde und wettbewerbsfähige Weise subventioniert werden.
Was halten Sie dann vom Industriestrompreis?
Ich bin sehr für den Industriestrompreis.
Warum?
Der Industriestrompreis ist nichts anderes als eine Brücke. Auf der einen Seite haben wir noch nicht genügend elektrifizierte chemische und energieintensive Industrieprozesse. Auf der anderen Seite haben wir weder einen ausreichenden Ausbau der erneuerbaren Energien noch einen wettbewerbsfähigen Strompreis. Bis diese Lücke geschlossen ist, wird es eine lange Durststrecke mit wenig elektrischer Energie zu sehr hohen Preisen für die chemische Industrie geben. Und diese Kluft, in der wir lange Zeit nicht wettbewerbsfähig sind, muss überbrückt werden. Dafür ist ein Industriestrompreis da.
Könnten die Unternehmen diesen Zeitraum nicht selbst überbrücken?
Wir brauchen die Investitionssicherheit, die ein solcher fester Strompreis mit sich bringt, damit Deutschland auch nach 2030 eine investitionsstarke industrielle Basis hat. Denn sonst werden die Unternehmen den Risikobewertungskatalog durchlaufen und möglicherweise ihre endgültigen Investitionsentscheidungen außerhalb Deutschlands treffen.
Covestro auch?
Wir bekennen uns zum Standort Deutschland. Gleichzeitig hat Deutschland bei der Attraktivität für Neuinvestitionen deutlich nachgelassen. Die Gründe dafür werden nicht bekämpft. Die Steuerpolitik, die Energiepolitik und der Bürokratieabbau gehen in die falsche Richtung. Es geht also eher um den Erhalt der Substanz in Deutschland als um eine neue Investitionswelle.
Intel siedelt sich in Magdeburg an, Tesla in Brandenburg. Das sind auch milliardenschwere Zukunftsinvestitionen, für die Deutschland als Standort gewählt wurde. Würden Sie das nicht auch als Investitionswelle sehen?
Die Bundesregierung hat dafür massiv in den Subventionstopf gegriffen. Das hilft einzelnen Unternehmen, aber es ist keine gute Industriepolitik. Wir brauchen weniger Bürokratie, weniger Einschränkungen und Regulierung.
Es handelt sich um massive Investitionen. Allein Intel wird mit den neuen Fabriken in Magdeburg voraussichtlich 10.000 Arbeitsplätze schaffen. Irgendetwas macht die Bundesregierung doch richtig, oder?
Es scheint im Einzelfall zu funktionieren. So hat die Bundesregierung das Genehmigungsverfahren beim Bau der LNG-Terminals massiv verändert, teilweise sogar unterlaufen. Offensichtlich hat die Politik erkannt, dass in den Bereichen Bürokratie, Genehmigungsverfahren, Planungsverfahren und Subventionen etwas getan werden muss. Das zeigt: Es geht.
Interessanterweise schafft sie es aber nicht, dies auf eine industriepolitische Ebene zu übertragen, sondern tut es immer im einzelnen Unternehmenskontext. Das ist höchst ineffizient, denn in Berlin kann man sich nicht ständig um Einzelinvestitionen kümmern, die zwar groß, aber im gesamtwirtschaftlichen Kontext noch klein sind.
Dieses Interview ist zuerst bei n-tv.de erschienen.