Sind die Chancen von Frauen auf einen Vorstandsposten in deutschen Unternehmen gestiegen? Einige Schlagzeilen aus den letzten Monaten legen das nahe. Doch der schöne Schein trügt. Warum Frauen es immer noch schwer haben, erklärt Martina van Hettinga
In den letzten Wochen und Monaten machten einige Schlagzeilen Hoffnung, dass sich bei der Chancengerechtigkeit für Frauen etwas zum Positiven ändert. Doch wie so oft trügt der schöne Schein. Bei näherer Betrachtung entpuppen sich die vermeintlichen Erfolgsgeschichten als erster Schritt in die richtige Richtung, sind bei weitem aber noch nicht ausreichend – dies liegt nicht zuletzt an einer „Checkbox-Mentalität“ hiesiger Unternehmen: Pflicht erfüllt. Für echten und nachhaltigen Wandel brauchen wir mehr Begeisterung und eine neue Führungskultur in den hiesigen Vorständen.
Im „Global Gender Gap Index 2023“ des Weltwirtschaftsforums macht Deutschland nach Rang zehn im Vorjahr vier Plätze wett und wird diesmal Sechster. Die Tagesschau titelte im Juni: „Deutschland rückt auf den sechsten Platz vor“. Im März jubelte das Handelsblatt: „Der Dax war noch nie so weiblich wie derzeit.“ 59 Frauen haben demnach einen Dax-Vorstandsposten. Hört sich alles verheißungsvoll an. Also alles Sonnenschein?
Weit gefehlt. Im Global Gender Gap Index heißt es auch, dass nur 29 Prozent der Spitzenpositionen von Frauen besetzt sind. Ein Rückschritt auf den Wert von 2018. Und im Dax stehen laut „Handelsblatt“ den 59 Vorständinnen immer noch 199 männliche Vorstände gegenüber. Nicht zuletzt dürfte der Aufwärtstrend von Frauen in Dax-Vorständen daher rühren, dass die EU Druck macht: Bis 2026 lautet die Vorgabe der EU, dass in börsennotierten Unternehmen 40 Prozent der Aufsichtsratsposten oder 33 Prozent der Vorstands- und Aufsichtsratsposten an das jeweils unterrepräsentierte Geschlecht gehen. Und auch die Führungsetagen mittelständischer Unternehmen sind dem Vernehmen nach nicht unbedingt diverser aufgestellt.
Die Quote für börsennotierte Unternehmen, auch wenn längst überfällig, führt allerdings zu einigen unerwünschten Nebenwirkungen. So kommt die Universität Düsseldorf in einer Auswertung für die „Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung“ zu dem Ergebnis, dass im Dax und im MDax Männer im Schnitt sechs Jahre und elf Monate im Vorstand verweilen, Frauen hingegen nur drei Jahre und zwei Monate. Wohlgemerkt hat dies nichts mit Qualifikationen, Persönlichkeit oder Kompetenzen zu tun. Hochqualifizierte Frauen gibt es schließlich viele.
Männerdominierte Führungskultur
Dass Frauen durchschnittlich halb so lange auf einer Führungsposition verweilen wie Männer, hat andere Ursachen. Es ist weiterhin ein großes Manko, dass Männer immer noch viel öfter intern befördert werden als Frauen – die „Leaky Pipeline“ lässt grüßen. Was wiederum dazu führt, dass Frauen oft extern gesucht werden. Und wer extern zu einem neuen Unternehmen stößt, verweilt in der Regel deutlich kürzer auf dem neuen Posten als intern beförderte Kandidat:innen. Ganz gleich ob Mann oder Frau. Für Kandidatinnen kommt sogar erschwerend hinzu, dass sie oft eine sehr männerdominierte Führungskultur vorfinden – teils als neuer Bestandteil die einzige oder eine der wenigen Frauen innerhalb des Führungskreises sind. Aufgrund der vorherrschenden Annahme, dass Frauen empathischer sind, werden sie zudem oft in einer Transformationsphase an Bord geholt. Dann ist von vornherein ein Ende der Zusammenarbeit absehbar.
Die Konsequenz, wenn man sich differenziert mit dem Defizit an Frauen in der Führungsetage auseinandersetzt? Statt ihren internen Kandidatinnen mehr zuzutrauen und sie entsprechend zu fördern, investieren börsennotierte Konzerne massiv in die Suche nach externen Top-Managerinnen. Diese sind angesichts der gesetzlichen Quotenregelung aktuell aber massiv umkämpft, der Besetzungsprozess entsprechend anspruchsvoll. Im Übrigen kann der Wettbewerb dazu beitragen, dass die Verweildauer angesichts lukrativer Abwerbungsversuche zukünftig sogar noch abnimmt.
Eine These, die auch durch den McKinsey Report „Women in the Workplace“ gestützt wird. In dem Report wurden über 400.000 Menschen zu ihren Erfahrungen am Arbeitsplatz befragt. Ein Ergebnis: Immer mehr Unternehmen kämpfen darum, ihre wenigen weiblichen Führungskräfte zu halten. Ursachen dafür sind vor allem latente Ablehnung oder unterschwellige Skepsis, wenig Anerkennung dafür, wenn sich weibliche Führungskräfte für das Wohlergehen ihrer Teams einsetzen sowie eine nicht ausreichende Wertschätzung im Unternehmen für Themen wie Flexibilität, Wohlbefinden, Vielfalt, Gleichberechtigung und Integration.
Organisationen, die die Quote nur als notwendiges Übel begreifen, schaffen nur sehr selten die Transformation zu einer geschlechtergerechten Kultur. Forscherinnen des Leibniz-Zentrums für Europäische Wirtschaftsforschung bezeichnen dieses Phänomen als „Sättigungseffekt“. Nach dem Motto „Jetzt haben wir ja unser Soll erfüllt“ setzen die meist männlichen Entscheider einen Haken beim Thema Gleichberechtigung, sobald es ein paar wenige Frauen in die erste Führungsebene geschafft haben.
„Alibibesetzungen“
So ergab eine ZEW-Auswertung der Geschlechterverhältnisse in Vorständen und Aufsichtsräten von über 3.000 Unternehmen in Europa, dass bei einem hohen Frauenanteil in Führungspositionen in einem Unternehmen, die Wahrscheinlichkeit sogar abnimmt, dass einer weiteren Frau der Sprung in das Gremium gelingt. Zudem seien es Männer, die häufiger auf Spitzenpositionen befördert werden, während Frauen auf „Führungspositionen mit geringerem Einfluss landen“, sagt Hanna Hottenrott, die neben ihrer Position beim ZEW Professorin für Innovationsökonomik an der Technischen Universität München ist. Als „Alibibesetzungen“ bezeichnet sie Besetzungen, die nur der Quote wegen stattfinden. Aber: Im Alleingang oder als krasse Minderheit werden Frauen in den Führungsgremien keinen nachhaltigen Kulturwandel anstoßen. Die Erkenntnis, dass dieser dringend erforderlich ist, braucht es auch bei den männlichen Vorstandskollegen.
Wir sollten schließlich nicht vergessen: Seit Jahrzehnten hat sich eine sich reproduzierende, von Männern geprägte Führungskultur manifestiert. Ein echter Kulturwandel erfordert auch, dass sich männliche Persönlichkeiten mit ihren eigenen, oftmals unterbewussten Vorurteilen und Präferenzen auseinandersetzen. Das „Thomas-Prinzip“ ist wissenschaftlich belegt: Im Zweifel bevorzugen aktuelle männliche Entscheider jemanden, „der“ ihnen ähnlich ist. In diesem Fall allein des Geschlechts wegen seltener jemanden, „die“ ihnen ähnlich ist.
Die Quote allein wird es daher nicht richten. Aber sie hat einen Wandel ins Rollen gebracht, der nun nicht mehr aufzuhalten ist. Die Weichen sind gestellt. Die Frage, wie lange Unternehmen sich gegen diesen Wandel sträuben oder sich nur widerwillig beteiligen, ist nicht länger eine moralische. Denn wer nicht abbiegt, der kann entgleisen, um beim Bild zu bleiben. Es geht um Wettbewerbs- und Zukunftsfähigkeit. Frauen in den Vorständen sind im Wettbewerb um Fachkräfte ein nicht zu unterschätzendes Argument, nicht nur symbolischen Charakters. Divers geführte Unternehmen sind erwiesenermaßen profitabler.
Begeisterung für mehr Vielfalt, Neues und Diversität
Vor allem aber führt eine Checkbox-Mentalität nicht zu einem echten Kulturwandel. Männliche Entscheider, die sich „gezwungen“ fühlen, ihre Gremien mit einer bestimmten Anzahl an Frauen zu besetzen, erinnern an einen Mathe-Schüler, der nur aus Angst vor dem Nachsitzen oder dem Rotstift des Lehrers seine Hausaufgabe macht.
Was bei dem einen zu einer schlechten Mathe-Note führt, resultiert in Organisationen zu einer Kultur, in der die Verweildauer von Frauen in den Vorständen eher ab- denn zunimmt, in der die Kosten für externe Besetzungszyklen, für permanent neue Onboardings und durch stetig abwandernde Expertise und Wissen steigen, statt dass mehr Diversität den Return-on-Investment verbessert. Denn jenseits aller moralischen Argumente ist auch der monetäre Mehrwert diverser Führungsgremien empirisch inzwischen gut belegt: Unter anderem McKinsey kommt zu dem Schluss, dass „gemischte Führungsteams gerade in Krisenzeiten entscheidend“ seien. Unternehmen mit internationalen Vorständen haben grundsätzlich laut einer Studie der Unternehmensberatung eine, um 36 Prozent größere Wahrscheinlichkeit, überdurchschnittlich profitabel zu sein. Für diese Innovationsfähigkeit und die dafür nötige Kultur braucht es beide Seiten, möglichst viele verschiedene Perspektiven. Nur so kann Wandel wirklich nachhaltig vorangetrieben werden.
Die erste Hausaufgabe ist daher gar nicht die Quote. Die erste Aufgabe für alle Entscheider: Die Begeisterung für mehr Vielfalt, Neues und Diversität in sich selbst zu entfachen. Und ein Blick auf die empirische Datenlage kann dabei helfen, sich selbst offen zu reflektieren, wie begründet die ein oder andere unbewusst schlummernde Ablehnung ist. Die Quote ist lediglich der dringend erforderliche Stupser in die richtige Richtung. Aber wer nach den ersten kleinen Erfolgen bereits einen Haken machen möchte, täuscht sich gewaltig. Denn bald schon werden auch die Marktmechanismen greifen, wenn dem nicht ohnehin schon so ist. Und dann erleben wir echten Wandel.