Darf der Staat einen angeschlagenen Konzern retten, der selbstverschuldet in eine Krise gerutscht ist – muss er es vielleicht sogar, um größeren Schaden abzuwenden? Mit erstaunlicher Regelmäßigkeit verstrickt sich Deutschland immer wieder in dieselbe Frage
Seit einigen Tagen streitet das Land über Siemens Energy, eine frühere Sparte des großen Siemens-Konzerns. Der ehemalige CEO Joe Kaeser hatte das Unternehmen kurz vor seinem Abgang noch an die Börse gebracht, um, wie er damals versprach, dem Geschäft mit Kraftwerken und Windrädern eine glänzende Zukunft zu ermöglichen. Doch kaum drei Jahre später ächzt und zittert das Unternehmen wie ein altes Rotorblatt im ersten Herbststurm des Jahres. Gründe für den Niedergang gibt es einige, aber viele gehen zurück auf eine völlig verfehlte Übernahme und ein Management, das sich zu lange blenden und die Dinge laufen ließ.
Die Sache scheint also eindeutig. Für Clemens Fuest, den renommiertesten Ökonomen des Landes, auf jeden Fall: Die Krise bei Siemens sei Sache der Eigentümer und Gläubiger, sagte er diese Woche in einem Interview bei den Kollegen der „Wirtschaftswoche“, alles andere bedeute eine Sozialisierung der Verluste.
Das Für und Wider von Staatshilfen für strauchelnde Unternehmen ist inzwischen eine ziemlich alte Diskussion, die das erste Mal in dieser Schärfe hierzulande vor 15 Jahren auftauchte. Damals hießen die Pleitekandidaten HRE, Commerzbank, WestLB und HSH Nordbank – um nur einige zu nennen. Die Politiker, die in jenem Herbst 2008 über Steuergeld, Garantien und Beteiligungen entscheiden mussten, zögerten und haderten lange, und man muss ihnen zugestehen: Die Probleme erschienen tatsächlich gigantisch und unendlich komplex. Selten zuvor hatten deutsche Minister und Abgeordnete innerhalb weniger Tage und Wochen so weitreichende Entscheidungen zu treffen. Ihre oberste Maxime damals lautete: Manager und Aktionäre nicht aus der Verantwortung lassen, die Haftung des Staates möglichst eng begrenzen.
Direkte Beteiligungen des Staates müssen nicht schlecht sein
Die Ansätze, die man damals wählte, waren allerdings alles andere als leicht zu verstehen: Auffanglösungen, Abwicklungsanstalten, riesige Pakete an Staatsgarantien, aber möglichst wenig direkte Beteiligung. Der Staat als Unternehmer, Politiker als Manager? Bitte nicht, das kann ja nicht gut gehen! So lautete das verbreitete Urteil.
Doch schon damals mischten sich auch andere Stimmen in die Debatte, die etwa auf die USA verwiesen: Dort hatte die US-Regierung alle großen Banken quasi teilverstaatlicht und ihnen im Gegenzug massive Kapitalspritzen verpasst – insgesamt 700 Mrd. Dollar bot Washington damals auf, um die Finanzkrise schnell wieder einzudämmen. Schon bald war klar, welcher Ansatz erfolgreicher war: Während die USA ihre Aktienpakete wenige Jahre später mit großem Gewinn wieder verkauften, laboriert Deutschland noch immer an den Folgen der damaligen Krise, bei der Commerzbank etwa ist der Bund weiter beteiligt.
Die Lehre lautete: Direkte Beteiligungen des Staates müssen nicht per se schlecht sein. Schnell rein, dann aber richtig – nicht nur mit den Verlustrisiken, sondern auch mit den Chancen einer erfolgreichen Sanierung, mit Eigenkapital also und echten Anteilen – und dann schnell wieder raus, kann für alle Beteiligten besser sein: für den Staat, die Steuerzahler und die notleidenden Unternehmen.
Diese Lektion schien Deutschland gelernt zu haben. Zumindest sah es so aus, als wegen des Coronavirus vor bald fünf Jahren die Weltwirtschaft in Schockstarre verfiel: Der Einstieg bei der Lufthansa mit insgesamt 9 Mrd. Euro an Eigenkapital und Garantien galt als Beispiel, wie man es klug macht: Unterm Strich machte der Staat mit der Hilfsaktion fast 800 Mio. Euro Gewinn. Diese Woche meldete die Airline schließlich den höchsten Quartalsgewinn in ihrer Geschichte. Niemand wird heute behaupten, es wäre 2020 richtig gewesen, die Lufthansa einfach in die Pleite rutschen zu lassen.
„Der Staat muss oftmals dann teuer einspringen, wenn er sich zuvor über Jahrzehnte überhaupt nicht für Branchen, Technologien, Lieferketten und Abhängigkeiten interessiert hat“
Den Gashändler Uniper übernahm der Bund im vergangenen Jahr sogar fast komplett, um die Gasversorgung in Deutschland zu sichern. Von den insgesamt 33 Mrd. Euro, die die Regierung an Kapital und Garantien zur Verfügung stellte, brauchte das Unternehmen aber gerade mal ein gutes Drittel – und machte nach dem Horrorjahr 2022 allein in den ersten neun Monaten dieses Jahres wieder fast 10 Mrd. Euro Gewinn. Bis 2028 muss der Bund seine Anteile wieder deutlich reduziert haben und dafür bis Ende des Jahres einen Ausstiegsplan bei der EU-Kommission vorlegen.
Die vergangenen fünf Jahre haben zudem gezeigt, dass der Staat oftmals dann teuer einspringen muss, wenn er sich zuvor über Jahrzehnte überhaupt nicht für Branchen, Technologien, Lieferketten und Abhängigkeiten interessiert hat. Der hektische Aufbau einer europäischen Impfstoffproduktion 2021 ist dafür ein Beispiel, der panische und absurd teure Einkauf von Atemmasken in der Pandemie ebenso, oder heute die horrenden Milliarden-Zuschüsse für Chip- und Batteriefabriken. Überall heißt es nun, Deutschland und Europa müssten ihre strategische Unabhängigkeit sichern.
Ausgerechnet bei der heimischen Energieindustrie aber, bei dem wenigen, was noch von ihr übrig ist und um deren Bedeutung wir doch spätestens seit dem 24. Februar 2022 wissen sollten, entbrennt wieder die alte Debatte, ob der Staat wirklich helfen sollte. Nach dem Motto: Zur Not bestellt Deutschland seine Windräder und Gaskraftwerke künftig eben in China – wo ist das Problem? Genauso hatte man vor 15 Jahren bei Impfstoffen, bei Computerchips und vor zehn Jahren bei Solarpanelen und Batteriezellen für Elektroautos argumentiert. Heute ist man erschrocken, mit welcher Macht chinesische Autohersteller mit ihren Elektroautos auf den europäischen Markt drängen, die – anders als die deutschen Hersteller – die gesamte Wertschöpfungskette dominieren. Es ist schon erstaunlich, wie kurz bei manchen Talkshowexperten das Gedächtnis hält.
Siemens Energy ist mehr als ein weiterer Fall von Krise und Missmanagement (das auch, keine Frage). Es geht bei diesem Unternehmen auch um die Frage, ob Deutschland in Zukunft noch heimische Produktionskapazitäten in der Energieindustrie haben möchte, zumindest im Kraftwerksbau und beim Windstrom. Und man kann die Frage gleich auf die energieintensive Industrie insgesamt und den ebenso umstrittenen Industriestrompreis ausweiten.
Ordnungspolitik ist richtig für die Grundlagen – doch mit Politik hat sie nichts zu tun
Zugegeben, es gibt gute Argumente gegen eine dauerhafte staatliche Subventionierung von Unternehmen und ganzen Branchen: Ordnungspolitische und ganz pragmatische – etwa, dass dies schnell sehr viel Geld kosten wird und den Strukturwandel und die Entwicklung neuer Technologien behindert. Aber solche Einwände lassen sich durch kluge Instrumente und Anreize entkräften, dafür gibt es inzwischen ebenso gute Beispiele und Erfahrungswerte.
Ordnungspolitik ist richtig für die Grundlagen – doch mit Politik hat sie eben gar nichts zu tun. Ganz im Gegenteil, Politik, gerade Wirtschafts- und Finanzpolitik, ist die kreative Suche nach den Möglichkeiten, die über die Grundsätze hinausgehen. Bei allen Problemen und Risiken, die darin lauern: Alles andere wäre eine gefährliche Selbstbeschränkung unserer Möglichkeiten, auf die Wettbewerber wie China, die USA oder auch unser Nachbar Frankreich nur genüsslich warten.
Wenn Deutschland es nicht schafft, die finanzielle und intellektuelle Kraft aufzubieten, um seinen industriellen Kern zumindest in großen Teilen im Land zu erhalten, dann brauchen wir uns über die große grüne Transformation der Wirtschaft keine Gedanken mehr zu machen. Auch die Milliarden für die Energiewende und den Aufbau einer neuen Infrastruktur für Wasserstoff können wir uns dann sparen. Damit allerdings, dass wir uns alle gegenseitig die Haare schneiden, werden wir den Wohlstand dieses Landes nicht erhalten – das hat schon ein Ex-Kanzler in seinen besseren Zeiten lakonisch festgestellt.