Der Münchner Agenturchef Martin Eggert hat ein Praktikum in einer Spitzenküche absolviert. Mental und physisch musste er an seine Grenzen gehen. Und als Führungskraft hat er sich eine Menge abgeschaut. Das ist sein Erfahrungsbericht
Warum machst du als Agenturgeschäftsführer ein unbezahltes Praktikum in der Küche? Das war die Frage, die mir im Frühjahr immer wieder gestellt wurde. Meine Antwort war zweigeteilt. Zum einen: Ich liebe Kulinarik und alles daran. Restaurants, Hotels, Zutaten, Equipment und das drumherum. Seit meinem 14. Lebensjahr habe ich als Spüler, im Service und an der Bar gearbeitet, ich inhaliere Gastro-Dokus förmlich und plane meine Reisen eher kulinarisch als kulturell. Es interessiert mich also persönlich. Zum anderen: Kaum ein System ist so professionell aufgestellt und eingestellt, auf Qualität in Produkt und Service getrimmt und trotzdem so sehr kostenoptimiert wie die Spitzengastronomie. Als Unternehmer in einem performanten und kompetitiven Umfeld, als Agentur regelmäßig um Aufträge im Pitch und nach Exzellenz strebend, sehe ich hier viele Parallelen. Es interessiert mich also fachlich.
Das Praktikum in einer Spitzenküche wollte ich schon lange absolvieren. Dann kam Corona und es gab immer einen guten Grund es doch nicht zu tun: Lockdown, keine Gäste oder Hygieneauflagen. Im Frühjahr war es dann aber so weit.
An einem Sonntagabend packe ich, positiv aufgeregt, meine Tasche und lege meine Klamotten raus, als wäre am nächsten Morgen meine Einschulung. Natürlich bin ich am nächsten Morgen ein paar Minuten zu früh da. Nach kurzer Wartezeit starte ich meinen ersten Tag mit zwei Unterschriften. Eine auf dem Praktikumsvertrag, eine für die Küchenuniform. Ich komme aus einer Marketing-Werbe-Bubble, in der jeder seiner eigenen Individualität mit möglichst viel individuellem Habitus und Outfit den maximalen Ausdruck verleiht – daher ist das ein Kontrast, auf den ich mich freue. Eintauchen in das System, alle sind gleich, keine Ausnahmen. Nur Küchendirektor und Stellvertreter tragen individuelle Kochjacken, die Hierarchie ist klar.
Onboarding gibt es nicht
Ich melde mich bei Michael, den alle nur „Chef“ rufen, im Büro, aus welchem er mit nach außen verspiegelten Scheiben über die Küche wacht. Er drückt mir Knöpfe für die Kochjacke in die Hand, ich knöpfe sie zu – und ab geht es in die Küche. Es ist 8.58 Uhr und ich kriege ein Messer in die Hand gedrückt. Eine Minute später stehe ich am Posten und um 9.01 Uhr rauscht die Klinge das erste Mal ins Brett, denn ich helfe beim „Mise en Place“, den Vorbereitungsarbeiten.
Onboarding? Gibt es nicht. In der Küche wird gearbeitet und es wird erwartet, dass man kann, was man tut. Die Woche vergeht im Flug. Heute Fisch und Gemüse, morgen Fleisch und Saucen, dann Patisserie und so weiter. Ich wechsle die Posten und fasse mit an, wo Bedarf ist. Wer nichts zu tun hat, hilft anderen. Rumgestanden wird nicht.
Es ist mental anstrengend. Permanente Fokussierung ist notwendig, zum Mitschreiben keine Zeit und die Blöße des Falschmachens keine Option. Auch nicht, wenn ich schnell aus dem Kühlhaus verschiedene Gemüse in unterschiedlichen Stückzahlen holen muss oder wenn das komplexe Rezept für einen Fischfond diktiert wird. Ich konzentriere mich wie ein Teenager beim Mathetest.
Es ist physisch anstrengend. Ich nehme zentnerschwere Rollwagen von Lieferanten entgegen, fahre sie durch tageslichtlose Gänge und sortiere alles in enge Kühlhäuser ein. Es ist kein Geschenk, 40 Artischocken zu putzen. Und es ist kein Leichtes, einen 68-Liter-Topf voll mit Sud, Gemüse und Knochen durch die Küche zu tragen, abzugießen und den Inhalt mit einer massiven Edelstahlkelle durch ein feinmaschiges Passiersieb zu drücken. Die Böden sind rutschig, mein Schuhwerk falsch und die Geräuschkulisse enorm. Die Umgebungstemperaturen von -20 Grad Celsius im Kühlhaus bis +40 Grad am Grill tun ihr übriges. Wer Hunger hat, isst schnell im Stehen. Etwas Pasta hier, ein Stück Fleisch vom Grill da. Zwar gibt es eine Kantine für das Hotelpersonal und wir bereiten das Essen auch zu, doch für solche Pausen bleibt keine Zeit.
Chef sagt Backpapier, also Backpapier
Darüber hinaus habe ich ganz persönlich viele Dinge gelernt, die mich den Rest meines Lebens zu einem besseren Koch und Gastgeber machen werden. Und zu einem besseren Chef, Kollegen und Unternehmer. Ein Beispiel: An Tag zwei, ich bin am Fischposten, filetieren wir gerade Loup de Mer und Steinbutt, da rattert der Bondrucker los und eine Bestellung fliegt rein: „Einmal Seezunge an Tisch 17, bitte.“ Der Chef de Partie, das ist derjenige, der den jeweiligen Posten – hier Fisch – leitet und sich für diese Gerichte verantwortlich zeichnet, erklärt mir, was wir zu tun haben und legt das Filet der Seezunge auf einem Blatt Backpapier in die Pfanne. Er erklärt mir, dass der „sehr feine Fisch so besser zu braten ist, die Haut weniger anbrät und er so schöner beim Gast ankommt“. Macht total Sinn, denke ich, und bejahe dies. Er aber entgegnet, dass er die Seezunge in seinem alten Restaurant immer ohne Backpapier gebraten habe – und das sei auch immer in Ordnung gewesen. „Warum machst du es dann so?“, frage ich. Er entgegnet nur: „Chef sagt Backpapier, also Backpapier.“ Punkt.
Und so banal das ist, diese Anekdote arbeitet seitdem in mir. Als ich meinem Team davon erzählte, schaute ich in leicht panische Gesichter. In der bereits erwähnten Marketing-Werbe-Bubble glauben ja die meisten schon am ersten Tag genau zu wissen, wie alles funktioniert und klare Vorgaben werden oft als Affront wahrgenommen. Statt also meinem Team Angst zu machen, weil der Spaß ab jetzt vorbei wäre, habe ich die Situation genutzt und die Vorteile klarer Regeln anhand dieses konkreten Beispiels erklärt.
Erstens: Der Chef de Partie, hier Fischposten, hat die Sicherheit, dass er einen edlen Fisch nicht kaputt macht und somit einem Rüffel aus dem Weg geht. Zweitens: Küchenchef Michael weiß, dass der Teller die Küche so verlässt, wie von ihm gewünscht, und der Wareneinsatz stimmt, weil kein teures Stück Fisch zerbraten und weggeworfen wird. Drittens: Der Gast erlebt die perfekte kulinarische Experience, kommt wieder und kriegt erneut die gleiche Qualität. Alle gewinnen, bei diesem Muster vor allem aber haben alle die Sicherheit zu gewinnen bereits im Vorfeld gehabt, weil es klare Regeln gibt.
Ich führe mein Team jetzt anders
Wie es wohl laufen würde, wenn der Fisch mal im Topf, mal in der Pfanne, mal mit oder ohne Backpapier und mal mit zu wenig oder zu viel Hitze zubereitet worden wäre? Ich versuche mein Team seitdem anders zu führen und auch wieder mehr Regeln zu etablieren, aber die Vorteile darin anders zu framen.
Nochmal zur Ausgangsfrage: Warum mache ich als Agenturgeschäftsführer ein unbezahltes Praktikum in der Küche? Ich wollte die Perspektive wechseln und Verantwortung gegen echte Mitwirkung tauschen. Am Kleinen arbeiten statt nur das Große denken. In der Mitte eines Teams sein, statt an der Spitze zu stehen. Und wissen, wie es in anderen Branchen funktioniert.
Dabei habe ich erlebt, wie in Zeiten von New Work klare Vorgaben (siehe Backpapier) und Hierarchien durchaus Bonus statt Malus sein können und wie Teamwork unter echtem Druck funktioniert. Also nicht dieser abstrakte Druck à la „Die Strategie-Präsentation für Marke XY muss fertig werden“, sondern der greifbare Druck im Sinne von: „Wir sind zwei Leute zu wenig, eine Herdplatte ist kaputt und wir haben trotzdem 80 Gäste im Restaurant.“
Ohne Umschweife: Das war großartig. Ich kann jedem nur empfehlen, sich selbst immer wieder zu hinterfragen, die eigene Komfortzone zu verlassen und somit den Horizont zu erweitern. Ob in der Küche oder Tischlerei sollte am Ende individuell gewählt werden. Ganz gleich wie, wann und wo: Es erdet und macht besser. Ich werde es wieder tun.
Martin Eggert ist Gründer der Kreativagentur David+Martin mit Büros in München, Berlin und Hamburg, liebt gutes Essen und plädiert für regelmäßige Perspektivwechsel